Wer wirklich reich ist

Erfahrungsbericht Nina

Einen ordentlichen Tapetenwechsel zum Leben in der Schweiz, eine neue Erfahrung in einer völlig anderen Welt, meine Spanischkenntnisse verbessern und Berufserfahrung in der Sozialen Arbeit sammeln – all dies wünschte ich mir und es wurde mir in der Fundación Minadores de Sueños ermöglicht. Mein Spanischlehrer hat in meinem zweiwöchigen Sprachaufenthalt, dem Praktikum in der Fundación vorausgehend, gesagt: „In Ecuador ist alles möglich. Nichts ist sicher, aber alles ist möglich.“ Nun, nach den sieben Monaten, die ich hier in Ecuador verbracht habe, kann ich diese Aussage mit gutem Gewissen bestätigen. Verlassen kann man sich weder auf öffentliche Verkehrsmittel, noch auf Abmachungen mit Menschen. Dies soll keineswegs negativ klingen. Es ist lediglich eine völlig andere Mentalität, als ich sie aus der altbekannten Schweiz gekannt habe. Dadurch, dass ich eine neue Kultur zu verstehen versuchte, habe ich bemerkt, welche Seiten meiner eigenen Kultur ich nicht verstehe. Was anfangs bei mir nur auf Fragezeichen stieß, wurde zum Alltag und somit zur Normalität – was einmal mein Alltag war, erschien mir auf einmal fremd und ich begann, diesen Alltag zu hinterfragen. Eine Erfahrung, die rückblickend auch mit einem etwas merkwürdigen Gefühl einherging.

Das „Señorita“ in allen Ton- und Gefühlslagen wird mir eine ganze Weile nicht mehr aus dem Sinn gehen. Die Kinder haben mich mit ihrer herzlichen, fröhlichen und aufgestellten Art begeistert und die Arbeit zu einem Dürfen gemacht statt zu einem Müssen, wie es bei einem Volontariat ja auch sein sollte – nein, wie es eigentlich bei jeder Arbeit sein sollte. Bei den braun bis schwarzen Kulleraugen war es nicht immer einfach, die nötige Konsequenz zu bewahren, genauso wenig beim breiten, schelmischen Grinsen. Doch genau diese ungezwungenen Momente scheinen die Fundación für die Kinder zu einer Oase zu machen – zu einem Ort des Dürfens, nicht des Müssens. Wie es der Name schon sagt, ist es ihnen hier erlaubt, ja gar erwünscht, zu träumen.

In der Fundación habe ich interkulturelle Erfahrungen machen können, habe viel von den Kindern und den Erwachsenen gelernt. Der Umgang auf Augenhöhe meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter förderte das angenehme Arbeitsklima. Für mich wichtige Werte wie Ehrlichkeit, Toleranz und Respekt fanden immer Platz.

Es ist beeindruckend und besorgniserregend zugleich, zu sehen, in was für einer Lebensrealität sich die Kinder zurecht finden müssen. Durch die finanziellen und sozialen Verhältnisse im Viertel Rancho los Pinos sind sie in mancher Hinsicht benachteiligt. Umso mehr Mut machte es mir, die Potenziale jedes einzelnen Kindes zu entdecken und diese fördern zu versuchen. Durch einen unbedingten Einsatz für das Wohl der Kinder, wie ihn die Fundación leistet, haben sie die Chance auf eine bessere Zukunft. Sie haben die Chance, die Verhältnisse, in denen sie Leben zu meistern und zu verbessern. Was die Regierung, vor allem das Bildungssystem, verhindert oder (absichtlich) übersieht, versucht die Fundación zu ermöglichen und leistet damit eine unglaublich wertvolle Arbeit. Dies gibt mir ein enormes Maß an Zuversicht und Motivation, für Gerechtigkeit einzustehen und zu kämpfen.

Auch wenn die Kinder im Viertel in Armut leben, haben sie mir gezeigt, was Reichtum abgekoppelt von der gewohnten Konnotation mit Geld wirklich bedeutet. Wer an eine bessere Zukunft glaubt, dafür einsteht, wer die verrücktesten Träume spinnt, der Mensch ist reicher als es ein Millionär jemals zu sein vermag.

Der Ausdruck „den Horizont erweitern“ wird in Bezug auf Auslanderfahrungen nicht um sonst so oft gebraucht. In meinem Fall hatte ich wirklich das Gefühl, über eine Bergkette zu wandern und die dahinter liegende, noch nie gesehene Landschaft zu erkunden. Ich habe mich auch ab und zu fremd gefühlt und mich nach dem Altbekannten gesehnt, wie wenn ich mich verlaufen hätte. Die Menschen, die ich hier kennenlernte, haben mir jedoch immer wieder die Orientierung zurückgegeben, mir die Unklarheiten Schritt für Schritt gezeigt und erklärt. Nun, durch die Erweiterung des Horizonts, schaue ich gewisse Dinge mit anderen Augen an. Ich habe mehr Bezugspunkte, die ich in meine Betrachtung der Welt miteinbeziehen kann, mehr Menschen, die mich in ihrem Sein und Handeln inspirieren. Vielleicht lebe ich nach dieser Erfahrung sogar etwas anders. Ich werde die bereichernde Zeit in der Fundación, in Ecuador niemals vergessen und danke an dieser Stelle allen, die Teil davon sind und waren.

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschweifen, an keinem wie an einer Heimat hängen. Der Weltgeist will nicht fesseln uns und enger, er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiter. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen. Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

Hermann Hesse

 

Nina Landolt, 23. Januar 2018
nina.landolt@bluewin.ch

Juli 2017 bis Januar 2018
Praktikum in Sozialer Arbeit